Zum Inhalt springen

XVII. cinefest - Internationales Festival des deutschen Film-Erbes

Kino, Krieg und Tulpen. Deutsch - Niederländische Filmbeziehungen

13. - 22. November 2020

Zeemansvrouwen (NL 1929/30, Henk Kleinman) ©Eye Filmmuseum

Unser ursprünglich geplantes Festival-Programm mussten wir aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus und der damit verbundenen Schließung der Kinos im November 2020 leider absagen.
Vom 20. Mai bis 9. Juni 2021 wird ein Teil des Filmprogramms im virtuellen Kinosaal des Kommunalen Kinos Metropolis, Metropolis+, gezeigt.

Einen Teil des Programms konnten wir im November 2020 in den digitalen Raum verlegen. So fandder 33. Internationale Filmhistorische Kongress online statt.
Dank unseres Partners, das Eye Filmmuseum in Amsterdam, können wir ein kompaktes Programm mit Filmen von deutschen Exilanten in den Niederlanden in den 1930er Jahren online stellen und so ein themenkonzentriertes Programm anbieten.

Ergänzt wurde das Programm von einigen Specials, wie die Tonfassung von Zeemansvrouwen (NL 1929/30): Das Sozialdrama aus dem Amsterdamer Hafenviertel war als erster Tonfilm der Niederlande konzipiert, wurde dann wegen technischer Probleme aber der letzte Stummfilm. 2003 wurde er stimmungsvoll nachsynchronisiert.
Ein weiteres Highlight war der Kurzfilm Nur ein Viertelstündchen, den das Bundesarchiv exklusiv für das cinefest als Digitalfile zur Verfügung gestellt hat. In dem Film spielt die quirlige Truus van Aalten, in Deutschland wurde sie liebevoll »kleiner holländischer Käse« genannt, an der Seite von Theo Lingen und Robert Eckert.

Für unseren Festivalkatalog hat Rommy Albers, Senior Curator am Eye Filmmuseum, Amsterdam, und Co-Kurator beim cinefest 2020 einen Text zum Einfluß deutscher Emigranten auf den niederländischen Tonfilm verfasst, den wir hier als Einführung zur Online Edition des XVII. cinefest zur Verfügung stellen.

EXPERTEN UND EMIGRANTEN –
ZUR INTERNATIONALITÄT DES NIEDERLÄNDISCHEN TONFILMS 1930-1940

von Rommy Albers

Die Einführung des Tonfilms bedeutete einen großen Umschwung in der holländischen Filmkultur. Die Kinos wurden mit Tonanlagen ausgestattet, Musiker und Orchester verschwanden aus ihnen, und die Filmproduktion musste auf die Herstellung von Tonfilmen umgestellt werden. Die Umgestaltung der Kinos vollzog sich in den Niederlanden rasch. Schon Anfang der 1930er Jahre konnten in mehr als 90 Prozent der Kinos Tonfilme vorgeführt worden – vor allem dank des Engagements des Elektrokonzerns Philips und des wichtigsten niederländischen Filmverleihers, Loet C. Barnstijn. Gemeinsam hatten sie ein einzigartiges Tongerät entwickelt, das »Loetafoon«, eine »Nadelton«-Kombination von Filmprojektion und synchronisiertem Ton auf Schallplatten. Ein Drittel des niederländischen Kinos verwendete diese Installation, die anderen entschieden sich für Filmprojektion mit optischem Ton auf dem Filmstreifen (»Lichtton«). Letztendlich erzielte das Loetafoon allerdings nicht die erwünschten Ergebnisse und schlie.lich wurden alle holländischen Kinos mit optischen Tonanlagen ausgestattet.

Der Ton war zwar da, aber die Sprache, die im Kino erklang, war vorerst noch nicht Niederländisch. Noch wurden hier keine Tonfilme hergestellt – außer einigen Kurzfilmen zur Demonstration des Loetafoons. Auch die Wochenschau blieb bis zum Frühjahr 1931 stumm; dann allerdings boten die Polygoon und das konkurrierende Konsortium Orion-Profilti gleich zwei Tonwochenschauen an. Die Spielfilme aber waren und blieben fremdsprachig. Sie wurden zunächst auch nicht synchronisiert oder untertitelt. In den ersten Tonfilmjahren vernahm man vorwiegend englische und deutsche Dialoge – ohnehin waren die Vereinigten Staaten und Deutschland die wichtigsten Spielfilmproduzenten auf dem niederländischen Markt. Und da die meisten Holländer mit der deutschen Sprache weniger Probleme hatten als mit der englischen, wurden hier auch deutsch synchronisierte Filme aus Amerika gezeigt, wie die Filme mit Laurel und Hardy (»Dick und Doof«) und Im Westen nichts Neues (All Quiet on the Western Front, 1929/30).

Zunehmend lauter erklang jedoch der Ruf nach niederländisch eingesprochenen Filmen, sodass 1932 und 1933 die ersten Versuche unternommen wurden, niederl.ndische Tonspielfilme herzustellen. Im Januar 1934 konnte der erste niederländische Tonfilm vorgeführt werden: Jan Teunissens Willem van Oranje, ein Biopic über den »Vater des Vaterlands«, der im 16. Jahrhundert im Krieg gegen Spanien das Land in die Unabhängigkeit geführt hatte. Der Film war ein Fiasko, aber der folgende, Jaap Speyers De Jantjes (Die drei Matrosen), war ein großer Erfolg. 1,2 Millionen Zuschauer sahen die Geschichte von den drei jungen Männern, die nach ihrem Militärdienst in den Kolonien nach Hause kommen. Sie haben es schwer, in der Gesellschaft, die in einer ökonomischen Krise steckt, Fuß zu fassen. Die Männer gehen in die Kneipe, betrinken sich, konkurrieren untereinander und wissen letztendlich nichts Besseres, als sich wieder zur Armee zu melden – im Gegensatz zu ihren Freundinnen, die sich mit kleinen und großen Geschäften eine eigene Existenz schaffen können. Großen Anteil am Erfolg hatte die Mitwirkung von beliebten Revuestars wie Louis Davids und seiner Schwester Heintje, Fien de la Mar und Sylvain Poons.

Ein weiterer Grund für den Erfolg von De Jantjes war die Beteiligung erfahrener Ausländer. Im Gegensatz zu Willem van Oranje, an dem nur der tonfilmerfahrene ungarische Kameramann Akos Farkas und der französische Tontechniker Charles Métain mitgearbeitet hatten, waren die wichtigsten Positionen mit Fachleuten besetzt, die schon viel Erfahrung im Tonfilm gesammelt hatten: neben dem Kameramann Farkas und Regisseur Speyer waren dies Hermann Dankert (Ton), Hans Ledersteger (Bauten) und Hanna Kuijt (Montage). Alle hatten bereits in der deutschen Filmproduktion gearbeitet und brachten ihr Wissen und ihre Erfahrung mit in die Niederlande.

Jaap Speyer war hier geboren, aber schon 1917 nach Berlin gegangen, um dort und in Hamburg in der Filmbranche zu arbeiten. Er hatte über vierzig Spielfilme inszeniert, Unterhaltungsfilme wie Heddas Rache (1919), Bigamie (1927), G’schichten aus dem Wienerwald (1928) und Jennys Bummel durch die Männer (1929, mit Truus van Aalten). Nach Machtantritt der Nationalsozialisten war Speyer, der mit der jüdischen Schauspielerin Mia Pankau verheiratet war, nach Amsterdam zurückgekehrt. In Jahren 1934 drehte er noch vier weitere Unterhaltungsfilme. Den Krieg überlebten er und seine Frau in Westneuguinea, das damals zu Niederländisch-Indien gehörte, und in Australien.

Der Riesenerfolg von De Jantjes bescherte der niederländischen Spielfilmproduktion einen kleinen Höhenflug. Innerhalb von zweieinhalb Jahren wurden fast dreißig Filme hergestellt. Die meisten waren Unterhaltungsfilme, häufig mit bekannten niederländischen Revuestars in den Haupt- oder wichtigen Nebenrollen. Mit leichtfüßigen Komödien voller Tanz und Gesang – die sich teilweise vor der Kulisse des amsterdamer Arbeiterviertels De Jordaan abspielten, daher der niederländische Genrename »Jordaankomödie« – versuchte man, den Erfolg von De Jantjes zu wiederholen. Die Darsteller waren Niederländer, aber ansonsten agierten auf dem Filmset viele Mitarbeiter aus Babelsberg, Wien und Prag. Kathinka Dittrich hat in ihrer Dissertation »Der niederländische Spielfilm der dreißiger Jahre und die deutsche Filmemigration« (1987) gezeigt, dass nur ein einziger der 37 (!) niederländischen Spielfilme zwischen 1934 und 1940 ohne deutsche Beteiligung gedreht wurde.

Zu den deutschen Mitarbeitern zählten Emigranten, die Deutschland nach 1933 verlassen hatten, aber auch Fachleute, die weiterhin dort tätig waren und nur für eine bestimmte Produktion engagiert wurden. Für Bleeke Bet verpflichtete man Richard Oswald, der 1933 nach Österreich geflohen war und 1934 nach Duivendrecht gelangte, ein kleines Dorf in der Nähe von Amsterdam. Dort waren 1933 die Cinetone Studios errichtet worden, das Zentrum der niederländischen Filmindustrie (bis zu ihrem Konkurs 1987). Er traf dort auf Hans Ledersteger (aus Wien) und die Cutterin Hanna Kuyt/Kuijt (aus Berlin), doch jetzt hieß der Kameramann nicht Farkas, sondern Willy Goldberger (aus Berlin), der ebenfalls ins Exil gegangen war. Ledersteger hingegen kehrte nach einer zweijährigen Tätigkeit in den Niederlanden wieder zurück nach Österreich.

Nach einiger Zeit meldeten sich kritische Stimmen zu Wort. Zwar brauche man die Erfahrung und das Wissen der Zugereisten, aber es gebe doch auch in den Niederlanden mittlerweile gute Fachleute. Und gerade die könnten keine Erfahrung sammeln, weil man immer wieder Ausländer anheuere. Ende 1934, bei der Produktion von Max Nossecks De big van het regiment kam es zum Eklat. Wieder sollte die Deutsche Hanna Kuijt für die Montage verantwortlich sein, aber dagegen protestierte man nun: Es gebe inzwischen auch gute niederländische Cutterinnen. Wie in den Niederlanden üblich, einigte man sich auf einen Kompromiss. ab sofort würde neben jedem ausländischen Regisseur, Kameramann, Cutter und Filmarchitekten eine einheimische Fachkraft stehen. So wurden ab 1935 viele Filme mit Doppelbesetzung gedreht.

Vor allem Regisseure gaben oft nur ein einmaliges Gastspiel in den Niederlanden. Sie wurden für einen Film engagiert, kamen aus dem Ausland – Deutschland oder dem Exilland – und kehrten wieder dorthin zurück, sobald der Film fertiggestellt war. So reiste Max Ophüls aus seinem französischen Exil an, um in Duivendrecht Komedie om geld (1936) zu inszenieren. Er hielt sich nur kurz in den Niederlanden auf und war nicht unbedingt glücklich über die Verhältnisse, die er hier vorfand: ein zu geringes Budget, Ineffizienz und niedriges Niveau. Zudem war seine Aufenthaltserlaubnis zeitlich begrenzt; er musste nach der Arbeit das Land schnell wieder verlassen. 1939 inszenierte Detlef Sierck Boefje im zweiten Tonfilmstudio der Niederlande, der Filmstad Wassenaar, die 1935 vom Filmproduzenten Loet C. Barnstijn gegründet worden war. Sierck war schon auf dem Weg in die Vereinigten Staaten, als man noch am Feinschnitt seines Filmes arbeitete. Das Endergebnis hat er niemals gesehen.

Daneben gab es um den deutschen Produzenten Rudolf »Rudi« Meyer weitere Emigranten, die den niederländischen Film der 1930er Jahre stark geprägt haben. Insgesamt lässt sich sagen, dass deutsche, österreichische, ungarische und tschechische Filmschaffende einen sehr wichtigen Anteil an der niederländischen Spielfilmproduktion dieses Jahrzehnts hatten. Ohne sie wäre der Aufschwung nicht möglich gewesen. Ihre Erfahrung und ihr Wissen waren entscheidend für den Erfolg. Zu einem großen Teil ist es den Ausländern zu verdanken, dass das niederländische Publikum in den 1930er Jahren die niederländische Sprache auch in den Kinos hören konnte.

cinefest Katalog 2020

Zum cinefest erscheint ein umfangreicher Katalog mit Kritiken und Materialien zu den Filmen und Themen des Festivals

Bei uns im Shop bis 22.11.2020 für 20 Euro erhältlich (danach 25 Euro)

Integraler Bestandteil des Festivals ist der 33. Internationale Filmhistorische Kongress.

Diskussionsforen zu aktuellen und archivalischen Themen begleiten das cinefest.


error: Content is protected !!